Sommerzeit – Urlaubszeit. Vielleicht hast Du Deinen Urlaub noch vor Dir. Meiner ist gerade vorbei. Ich war zum wiederholten Male auf einem ConTango- und Bewegungs-Workshop in Tschechien mit Javier Cura, habe eine mini-kleine Radtour angeschlossen und anderthalb Tage die wunderschöne Stadt Brno/Brünn im Südosten Tschechiens erkundet. Glücklich und zufrieden, sehr erfüllt und gut erholt frage ich mich nun, was eigentlich dieses herrliche Urlaubsgefühl ausmacht und wie ich mir möglichst viel davon in den Alltag herüberretten kann. Denn schließlich ist das Ziel doch, ein Leben zu führen, von dem ich keinen Urlaub mehr brauche. 😉
Und so gehe ich in Gedanken noch einmal alles durch und schaue zur philosophischen Vertiefung bei immer noch 29°C spät nachts auf meiner Berliner Terrasse aus der Reihe “Streetphilosophy” von Ronja von Rönne die Folge “Reisen – mach mal Urlaub!”, die es inzwischen leider nicht mehr in der Mediathek, aber vielleicht auch bald auf YouTube gibt. “Woher kommt unsere Sehnsucht, ferne Länder zu bereisen?”, fragt sie darin. “Sind wir von Natur aus Nomaden, die eben immer weiter ziehen müssen? Und warum haben wir überhaupt das Bedürfnis, aus unserem Alltag auszubrechen und Urlaub zu machen? Ist das Paradies ein Ort, den wir finden können? Oder müssen wir es in uns selbst suchen?”
Reduktion und Einfachheit
Auch, wenn ich doch immer wieder den Fehler mache, zu viel Gepäck mitzunehmen: Der Urlaub ist eine willkommene Reduktion auf das Wesentliche. Weniger Dinge und weniger Aufgaben. Ich spüre, wie wohltuend es ist, mal nicht noch tausend ToDos im Kopf zu haben und nur wenige Entscheidungen treffen zu müssen. Und selbst die wenigen Fragen, die noch übrig bleiben – “Nehme ich am Programm teil oder gönne ich mir eine Pause?” –, sind fast schon zu viel.
Die Langsamkeit des Programms tut mir gut. Mehrere Stunden auf der Wiese sitzen und eine kleine Bewegungsfolge üben. Mit nackten Füßen durch feuchten Schlamm waten. Libellen beobachten. In Ruhe den Fluss entlang schwimmen. Spüren, dass die langsamsten Tänze die intensivsten sind.
Abstand und “das Außeralltägliche”
Ronja von Rönne behauptet in Streetphilosophy: “Das Reisen ist eine Chance, um mein Leben von außen zu betrachten – und zu erkennen, was man daran ändern sollte. Im Alltag fehlt mir oft der Abstand.”
Aber brauche ich dafür tatsächlich eine weite Reise?
Gerade jetzt nach dem Urlaub entdecke ich, wie wichtig auch immer mal “der kleine Abstand zwischendurch” ist. Im Büro habe ich Abstand von der Hausarbeit. In der Pause im Park und auf dem Wochenendausflug habe ich Abstand von beidem. Manchmal genügt sogar schon ein ganz kleiner Ortswechsel, einmal kurz aufstehen, ein anderer Raum, der Blick in die andere Richtung, um das Denken zu befreien und mich neu zu öffnen oder zu fokussieren. Und beim Schreiben und Journaling gehe ich innerlich auf Reisen und verarbeite ich meine Gefühle und Gedanken. Ganz analog, mit dem Stift in der Hand.
Lieblingsorte genießen und Neues entdecken
Was die Wahl meiner Urlaubsziele angeht, aber auch meiner Freizeitaktivitäten, habe ich zwei wichtige Motivatoren: die Freude des Wiederentdeckens und die Freude des Neuentdeckens. Und besonders schön ist es, wenn sich beides die Waage hält.
Meine Lieblingsorte möchte ich immer und immer wieder genießen. Damit verbunden ist ein wohliges Gefühl von Heimat in der Ferne, ein Ankommen im zweiten Zuhause, alte Freunde wiedertreffen und neue Leute kennenlernen. Es entsteht mit der Zeit eine große Verbundenheit. Und letztlich auch eine große Entspannung, weil ich vor Ort nicht alles neu erkunden muss und mich auf meine liebsten Aktivitäten konzentrieren kann.
Die Neugier ist andererseits eine starke Triebfeder des Menschen. Und manchmal habe ich das Bedürfnis, meine inneren Bildspeicher neu zu füllen, mit frischen Eindrücken zu füttern. Abwechselnd Bekanntes und Neues zu genießen, ist für mich daher ideal. Oder auch, an eine Reise zum Lieblingsort noch eine Tour zu neuen Ufern anzuschließen.
Die Philosophin Johanna Juni erklärt das in “Streetphilosophy” mit Alain de Botton, der gesagt habe, dass der Mensch zugleich Bauer und Nomade sei. So kommt es, dass wir gleichzeitig sesshaft sind und gerne auf Reisen. Wir haben zum einen das Bedürfnis nach Sicherheit und einem Ort, an dem wir zuhause sind. Auf der anderen Seite aber auch immer die Sehnsucht nach etwas Neuem, nach Aufbruch, nach Freiheit.
Eine Stadt wie Berlin ist natürlich perfekt geeignet, auch im Alltag immer wieder neue Ecken zu checken, andere Wege zu testen und sich kulturelle Anregungen zu verschaffen – und zugleich die Lieblingsorte regelmäßig zu genießen.
Umgang mit Zeit
Ein Workshop mit einem Argentinier sorgt für ein sehr entspanntes Verhältnis zur Zeit. Statt fester Uhrzeiten sprechen wir von “sixish” oder “tenishhh” und meinen damit irgendwas ab sechs oder zehn, eher eine halbe/dreiviertel Stunde später, halt dann, wenn es passt und alle bereit sind. Strikter wird es nur, wenn “the outer world” anklopft. Ansonsten gilt das Motto: “Go with the flow!” Ein Teilnehmer wirft ein: “Hier regiert Kairos statt Chronos,” also der Gott des günstigen Augenblicks. Das kann im Gruppenprozess auch mal anstrengend sein, sorgt aber insgesamt dafür, die Dinge in Ruhe zu Ende bringen zu können.
Feste Termine sind jeweils da wichtig, wo es um Verabredungen mit anderen geht. Das Flow-Erlebnis entsteht eher dort, wo Zeit keine Rolle spielt.
Wichtig ist auch das Thema “gefühlte Zeit” und die Frage, ob ich mir meine Zeit selbstbestimmt einteilen kann. Habe ich gefühlt genügend Zeitfreiräume für das, was mir wichtig ist und Freude macht? Ohne im Nacken schon den nächsten Termin zu spüren? – Und ja, auch in so einem Workshop mit vielen tollen Angeboten kann schnell der innere Druck entstehen, alles mitnehmen zu wollen und damit gefühlt auch wieder “zu wenig Zeit” zu haben für eigene Pausen und Entspannung. Ich lerne, dass mir das am Ende gar nichts ausmacht, wenn das Programm selbst mich mitnimmt in den Flow, wenn ich ganz aufgehe in dem, was ich tue. Egal, was es ist.
Wenn ich im Kopf schon wieder beim nächsten Programmpunkt bin, kann ich mich nicht wirklich einlassen auf das, was ist. In den Flow komme ich erst, wenn ich ganz eins bin mit meinem Tun. Andererseits braucht auch das schönste Erlebnis einen Anfang und ein Ende, damit Raum für etwas Neues entsteht.
Muße und Digital Detox
Der Urlaub als arbeitsfreie Zeit ist oft auch gleichbedeutend mit weniger Zeit am Rechner – auch eine Reduktion! Ja, durchaus, ich hatte das Smartphone dabei, sogar auch ein Tablet, aber verglichen mit einer üblichen Woche ist die Urlaubszeit fast schon eine Digital-Detox-Kur. Es tut mir gut, dass mal weniger Nachrichten auf mich einströmen und statt Social Media echte Begegnungen im “Real Life mit Anfassen” im Mittelpunkt stehen!
Eng damit verbunden ist das Thema “Muße”. Wann sonst gönnen wir es uns wirklich, einfach mal Löcher in die Luft zu starren? Dabei ist Muße wichtig für Kreativität und neue Ideen. Laura Ritthaler schreibt in “Emotional Detox”: “Der Mensch braucht Entspannung. Unser Gehirn und unsere Gefühle sehnen sich nach Aus- und Mußezeiten, in denen keine neuen Informationen hinzukommen und genügend Energie gesammelt werden kann, um Erlebtes zu verdauen.”
Gerade der Sommer bietet sich an, einfach raus zu gehen und das echte Erleben zu genießen! Oder in der Hängematte die Wolken zu beobachten.
Draußen in der Natur
Wenn ich meine Zeit größtenteils draußen verbringen darf, bin ich glücklich. In meinem Urlaub suche und genieße ich daher vor allem den Kontakt zur Natur. Im Zelt oder bei weit geöffnetem Fenster schlafen, per Rad statt im Auto, im grünen Gras liegen, viel schwimmen gehen, Sauerstoff tanken fast rund um die Uhr. Das Grün beruhigt die Augen und bringt erfrischende Kühle in die Sommerhitze.
Mehr Zeit in der Natur lässt sich selbst im städtischen Alltag realisieren. Mit dem Rad zur Arbeit, die Mittagspause im Park, der Ausflug am Wochenende – oder vielleicht kann ich meine Arbeit auch auf der Terrasse oder im Grünen erledigen? Ein paar Stunden frische Luft wirken oft Wunder!
Bewegung
Bewegung ist Leben, Erleben und setzt Emotionen frei. E-motion. In Beruf und Alltag aber sitzen wir meist zu viel. Im Urlaub mal wieder andere Bewegungen zu integrieren, schafft einen Ausgleich. Nach einer Woche Tanz und “Spiraldrehung im Park” fühle ich mich weicher, beweglicher. Die Paddeltour stecke ich gut weg. Aber die Hügel von Brno lassen mich auf dem Fahrrad spüren, wie untrainiert ich doch bin. 😉
Javier motiviert uns im Workshop, mit Bewegung zu spielen, immer wieder Neues zu probieren und in den Alltag so viele unterschiedliche Bewegungsmuster einzubauen wie möglich, um nicht noch extra trainieren zu müssen. Zum Beispiel, indem wir die Kaffeedose absichtlich so weit oben positionieren, dass wir uns täglich danach strecken müssen. Auch mal im Stehen oder in der Hocke arbeiten. Barfuß gehen. Die Treppe zur Abwechslung mal hoch und runter krabbeln oder hüpfen. Mit Kindern oder Freunden im Park im Vierfüßler Fangen spielen. Und natürlich Tanzen. 😉
Javiers tägliche Frage: “How do you feel – physically and emotionally?” wird mich noch lange begleiten, auch im Journaling.
“Ich fühle mich so glücklich um die Füße.” sagte er, wenn er zusah, wie der Lehmmatsch zwischen den Zehen hervorquoll. “Überhaupt bin ich glücklich am ganzen Körper.”
– Astrid Lindgren in: “Rasmus und der Landstreicher” –
Spüren und Genießen
“Dancing without sensing is non-sense,” erinnert uns Javier immer wieder in meinem Urlaub: “Tanzen ohne das Spüren, ohne die Sinne ist Un-Sinn!”
Im Urlaub gönnen wir uns tatsächlich mehr Zeit zum Spüren und Genießen. Einfach, weil wir die Zeit haben. Oder weil etwas Neues unsere Sinne anregt, neue Geräusche, Gewürze und Gerüche. So nehme ich zum Beispiel nach zwei Wochen im Zelt die herrliche Matratze in meiner Unterkunft in Brno und das tolle Gefühl der glatten Bettwäsche auf meiner Haut als ganz besonders angenehm wahr und das schöne Morgenlicht in meinem Schlafzimmer.
Das Spüren wird im Urlaub zur Hauptbeschäftigung und nicht überlagert von emsigem Tun. Dieses Gefühl möchte ich mitnehmen und immer wieder hineinspüren in Alltägliches.
Zeit für mich / Zeit mit Freunden
Der Urlaub ist die Zeit des Jahres, in der es ganz um die eigenen Bedürfnisse geht. Die “Zeit für mich” kommt im Alltag ja oft zu kurz. Aber auch Zeit mit anderen kann bewusst im Mittelpunkt stehen, gerade bei einem Workshop oder einer Gruppenreise und natürlich auch als Paar, mit Freunden oder der Familie. Für mich besonders angenehm ist die Haltung “alles kann, nichts muss”, die ich an Javiers Workshop sehr schätze. Alles sind Angebote ohne Verpflichtung, ich kann jederzeit frei entscheiden, ob es gerade passend für mich ist oder nicht, ob ich Zeit mit den anderen verbringen möchte oder alleine. Und es ist schön, ein paar bekannte Gesichter vom vergangenen Jahr dort wiederzutreffen.
Ganz ähnlich kenne ich es auch von anderen Tanzveranstaltungen: In meinen Alltag baue ich mir bewusst viele Aktivitäten ein, bei denen ich sicher Freunde treffe, ohne mich extra fest dafür verabreden zu müssen.
Mikrourlaube
Ganz passend zu meinen Gedanken beschreiben auch Anette Frankenberger und Antonia Fuchs ihr Konzept der Mikrourlaube im Podcast “15 Minuten fürs Glück”. Sie betonen, es ginge auch darum, Urlaubsmomente im Alltag zu erkennen und zu benennen, um sie auch als entsprechende Auszeit zu nutzen und wertzuschätzen. “Wenn wir etwas als Urlaub deklarieren, ist das wie ein Spiel und wird dazu.”
Tatsächlich mache ich das schon sehr lange. Ich arbeite in einer sehr touristischten Gegend und nehme dieses Urlaubsfeeling sofort an, sobald ich das Büro verlasse. Und meine oft zitierte Mittagspause im Kinder-Freibad habe ich schon häufig scherzhaft als “eine Stunde Urlaub” bezeichnet.
Die Kunst ist also vor allem, die Urlaubsstimmung und die kleinen Dinge, die wir im Urlaub anders machen, in den Alltag zu übertragen. Einfach mal Tourist in der eigenen Stadt sein und die Umgebung und die Nachbarn mit offenen Augen neu entdecken. Kleine, selbstbestimmte Zeitinseln schaffen und genießen. Und sich in der Natur erholen.
Viel Spaß dabei!!
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